Fragen an die innere Russin

Von Nellja Veremej

Schlosspark Wiepersdorf © Nellja Veremej

In diesen klaren sonnigen Frühlingstagen befinde ich mich als Stipendiatin im Schloss Wiepersdorf, umgeben von verschlafenen Dörfern, Wäldern, hinter meinem Fenster liegt ein schöner Park mit einer Orangerie. Aber ausgerechnet diese Idylle peitscht das Auge statt es zu trösten – der Frieden hier und der Krieg anderswo und die schmalen Holzkästen, in denen die Skulpturen überwintern, werden zu Särgen, vertikal in die Erde gesteckt.

Wie wir alle denke auch ich an die Menschen unter den Bomben oder auf der Flucht. Gleichzeitig frage ich mich andauernd, wie ich, deutsche Autorin, die ihren russischen Akzent nicht losgeworden ist, das schmerzende Solidaritätsgefühl verbal austrage; ob ich es nicht missbrauche, es wie einen Schutzschild vor mir trage, um mich vor dem Pauschalverdacht zu schützen: Der Russe kommt und er liebt Krieg.

Dieses vage und brennende Gefühl, eine Mischung aus Mitleid, Scham, Angst, ist nicht abzuschütteln wie ein Schatten. Vor diesem Gefühl kann ich auch nicht in die Arbeit flüchten, denn in dem Text, an dem ich mich gerade mühe, geht es um die schmerzhaften Erinnerungen einstiger deutscher Kriegskinder.

Ausgerechnet in diesen Tagen sitze ich im hellen Atelier unter dem Dach und arbeite mit Audioaufnamen aus dem Archiv von Wiepersdorf. Das Anwesen war noch bis zum Kriegsende im Besitz der Familie von Arnim. Laut betagter Stimmen in meinen Ohrhörern verlief das Leben hier bis zum Frühling 1945 fast normal, wenn auch fast alle Männer im Krieg waren, auch der Schlossherr.

Eine Frau erinnert sich, wie sie als Kind im Auftrag der Herrschaften im Park Erbsen puhlte. Eine andere erzählt, wie Dora, das Dienstmädchen im Schloss, heimlich eine Entenkeule verzehrte, die eigentlich für den Weihnachtstisch der Herrschaften bestimmt war. Dann der wahre Bruch, der wahre Schreck. „Ach du, meine Güte, jetzt kommen ja die Russen!“, hörte die Zeitzeugin, damals ein Kind, die Baronin sagen. „Am frühen 20. April, um halbneune standen sie hier nebenan, die ersten Russen“, greift eine männlich Stimme den Erzählstrang auf. „Das weiß ich noch ganz genau...“

Pause. Mittagessen. Neben meinem Teller liegen die Tageszeitungen, deren großgeschriebene Titel erschreckend nahtlos an das eben Gehörte anknüpfen. „Wenn die Russen kommen“, „In Moskau ändert sich der Ton“, „Der Geist, den die Truppe braucht“ oder „Russischer Vormarsch auf Kiew“ – auf die Stadt, in der meine 80-jährige Tante jetzt ist. Mehrere Tage hintereinander hinkte sie zum Bahnhof mit ihren Krücken (sie ist gehbehindert), konnte aber nicht in den Zug steigen, wurde im Gedränge beinahe zerquetscht und musste zu Hause bleiben. Ihr Bruder, mein Onkel, blieb wegen ihr im belagerten Kiew, die anderen Verwandten sind in die Westukraine geflüchtet.

Das ist die Familie meines Vaters. Weil er aber früh verstarb, habe ich sie alle nur selten gesehen, größtenteils pflegten wir eine Fernbeziehung. Jetzt sind wir wieder ein Herz und eine Seele, wie damals, als mein Vater noch lebte, und auch sie alle, die untereinander zerstritten waren, haben rasch wieder zusammengefunden.

„Dank dieses Krieges reden wir alle wieder miteinander, sorgen uns umeinander, so ein schönes Gefühl!“, schluchzte meine Tante in den Hörer. Momentan ist das ihr einziger Trost, während sie und ihr Bruder wie sehr betagte Hänsel und Gretel Hand in Hand durch die Kiewer Düsternis laufen, vor Angst zitternd.

© Nellja Veremej

Ich frage mich, ob ich nicht zu oft mit und ohne Anlass meine Tante in Kiew erwähne. Will ich damit vielleicht auch ein bisschen Opfer sein, um mit dem Pauschalverdacht umzugehen und nicht nur dem Tätervolk anzugehören? Will ich mich mit meiner ukrainischen Verwandtschaft vor eventuellen Anfeindungen schützen. Oder will ich (nicht nur unberechtigten) Vorwürfen begegnen, nämlich die Gefahr, die sich in der letzten Zeit in Russland zusammenballte, ausgeblendet, verharmlost zu haben?

Worüber ich auch nachdenke, aber kaum spreche, ist meine Sorge um meine Familie in Russland. Ich würde auch lieber verschweigen, dass ich die allgemeine Schadenfreude nicht teilen kann, dass es den Russen nun so schlecht geht und noch schlechter gehen wird. Ich kann mich nicht freuen, dass meine Mutter ohne Essen oder Medikamente bleiben könnte und meine Cousins und Neffen gerade ihrer Zukunft beraubt werden. Niemand kann mir einen rechten Rat geben, wie ich mit denjenigen von meinen russischen-Verwandten sprechen soll, die der Kreml-Propaganda auf den Leim gehen. Dieses Dilemma bleibt meins.

Manchmal gelingt es mir, mich aus diesem zermürbendem Gedankenkreis zu ziehen, indem ich mir einrede, dass ich seit 30 Jahren in Deutschland lebe und eine deutsche Schriftstellerin bin, nur mit dem falschen Blut in den Adern. Dieses Missgeschick ist nicht so neu in der Geschichte. So fühlten sich vielleicht Deutsche, vom Ersten oder Zweiten Weltkrieg irgendwo im Ausland oder in einer der östlichen Wahlheimaten erwischt, auch in Russland.

„Brandanschlag auf deutsch-russische Schule in Marzahn, in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine“, höre ich, während ich diese Zeilen schreibe. Wollen wir, dass Hass und Krieg aus den zerbombten Städten in unsere Städte überschwappen? Nein. Innehalten. Tief einatmen. Dort Halt suchen, wo ich ihn auch früher immer gefunden habe, auch in guten Büchern, die nie schwarzweiß sind. Bunt und fein nuanciert, kann ein gutes Buch helfen, die Panik zu überwinden, den Zorn bändigen, sich mit den eigenen Empfindungen auseinanderzusetzen. Susan Sonntags „Das Leiden anderer betrachten“ kann einem ausgerenkten, von grausamen Bildern überfluteten Gemüt Krücken reichen, dünn aber hilfreich. Auch um mich zum Denken und Schreiben zu mobilisieren, was meine Arbeit ist.

Solche wie ich, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, werden oft als Chamisso-Autoren bezeichnet – nach dem Mann, der ein gebürtiger Franzose war und ein deutscher Dichter. Seinerzeit, während der napoleonischen Kriege, war er mit falschem Pass und falschem Akzent am falschen Ort, der aber sein Zuhause war und Berlin hieß. In dieser Zeit entstand ein deutsches Nationalbewusstsein und ein Motor dieser Euphorie war der Kampf gegen Frankreich. Die deutsch-russische Freundschaft wurde gefeiert, alles Französische war verhasst, so dass Chamisso 1813 in Kunersdorf, einem Gutshof in Brandenburg, Zuflucht suchte und fand, um nicht in Berlin Feindseligkeiten als Franzose ausgesetzt zu sein.

Seinen berühmtesten Text hat Chamisso während des Krieges geschrieben: Sein Schlemihl ist ja in gewissem Sinne eine Frucht des Krieges. Im Schloss seiner Gastgeber, der Familie von Itzenplitz, saß Chamisso im Bibliothekzimmer am offenen Fenster, den Blick auf den schönen Park gerichtet, und schrieb seinen Schlemihl, der dem fremden grauen Mann seinen Schatten verkauft. Geld hat er seitdem im Überfluss, aber keine Ruhe mehr: Er wird durch die Welt getrieben, „durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen“, wie Chamisso selbst, der in Frankreich zu der von den Revolutionären verhassten Minderheit der Adeligen gehört hatte und dann im preußischen Berlin zu den gehassten Franzosen.

Für seine Leiden wurde Chamisso dann schließlich entlohnt, als Dichter gefeiert und auch als Wissenschaftler, aber erst, als wieder Ruhe eingekehrt war. Und während ich diese Zeile schreibe, zähle auch ich die Stunden und Minuten, bis dieser Krieg zu Ende geht.

Der Gutshof in Kunersdorf war Wiepersdorf durchaus ähnlich – eine vorbildliche Landwirtschaft und zugleich ein Musenhof, letzteres gilt immer noch für die beiden Residenzen. Die Sonne scheint, der Park ist leer, im Salon quietschen sachte die Bodendielen. Streng und fordernd schaut zu mir der alte, ergraute Wandspiegel, der in seinem langen Dienstleben viele Künstler gesehen hatte: Anna Seghers, Christoph Hein, Sarah Kirsch sind nur einige aus der langen Liste. Am besten waren dem alten Spiegel jedoch Achim und Bettina von Arnim vertraut, die 1814 nach Wiepersdorf gezogen waren. Mitten in den Befreiungskriegen gegen Napoleon fand das Dichterpaar hier Zuflucht vor den Turbulenzen, und vor allem Achim von Arnim hat hier gearbeitet und geschrieben. Wie auch ich in dieser Idylle, die so perpendikulär zum Grauen in der Ukraine steht, schreiben kann, ist mir noch unklar.

Klar ist, dass dieser Krieg eine Katastrophe ist und unsere Gedanken und Gebete an erste Stelle denen gelten, die jetzt gebombt oder auf der Flucht sind. Verwirrt und von Scham überrollt frage ich mich, ob mein Schreiben in Kriegszeiten eine angemessene Tätigkeit ist?

Aber ohne Literatur bestünde unsere Erinnerung an die vergangenen Kriege schließlich doch nur aus Trommelschlag und Schlachtfeldpanoramen. Das sage ich mir, um mein schlechtes Gewissen zu stillen. „Es wird auch für dich noch genug zu tun bleiben“, beruhigen mich meine Freunde, die den Geflüchteten in Berlin helfen. Ich kenne übrigens keine russischsprachige Person, die dieses Armageddon begrüßt oder verharmlost. Die Mehrheit engagiert sich, dolmetscht in Behörden und an Bahnhöfen. Dabei fragt niemand, wer und wo geboren wurde. Solidarität zeigen, helfen, spenden und nicht hetzen, nicht Hass vermehren.

Auch berechtigter Zorn heizt nur die Luft in uns und um uns noch mehr an. Selbst meine ukrainischen Verwandten, die nun unter russischen Bombardierungen leiden, versuchen nicht, zu erzwingen, dass ich mich für etwas entschuldige, was nicht in meiner Macht steht. Ich entschuldige mich dennoch, weil sie es von mir nicht verlangen.

Nellja Veremej ist Schriftstellerin und lebt seit 1994 in Berlin. Zuletzt erschien „Der Alexanderplatz“ im Bebra Verlag. Derzeit ist sie als Stipendiatin in Schloss Wiepersdorf.

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